Opfer des modernen Lebens oder welche Fitness mußt du mitbringen?

Selbstverteidigung muß für jeden zugänglich sein, egal welches Fitnesslevel oder welchen Gesundheitszustand man hat. Das ist ein unumgängliches Ziel.

Bei aller Einfachheit der meisten Techniken im Krav Maga, erlebe ich es dennoch immer wieder, daß einfachste, menschliche Bewegungen sogar für orthopädisch gesunde Menschen sehr unzureichend bis gar nicht durchführbar sind. In den meisten Fällen hat es mit der Bewegung der Hüfte zu tun.

Was ich dann mache, ist den Menschen dann anbiete, Alternativen zu erarbeiten und die zu nutzen, was auch funktioniert, schließlich bestimmt die Situation die Lösung und nicht die Technik.

Aber es wirft bei mir schon die Frage auf, in wie weit wir Opfer unseres eigenen Wohlstandes geworden sind und auch z.B. Dogmen folgen, die seit Jahren und Jahrzehnten stumpf befolgt werden, ohne je hinterfragt zu werden.

Opfer des modernen Lebens oder welche Fitness mußt du mitbringen?

Ich glaube, daß der Prozeß, wie wir uns selbst zu Opfern unseres Wohlstandes geworden sind, weit fortgeschritten ist.

Wir funktionieren nur noch in unseren eigens geschaffenen Strukturen, die auch für die meiste Zeit funktionieren. Ich meine damit den Alltag der meisten Menschen, der aus Wach werden (von liegen ins sitzen ins Stehen kommen), Frühstücken (vom Stehen ins Sitzen kommen), zur Arbeit fahren (vom Sitzen ins Stehen ins Sitzen kommen), dann zurück nach Hause (vom Sitzen ins Stehen ins Sitzen) fahren, um mit dem Hund zu gehen und Abend zu essen (vom Stehen ins Sitzen) und dann noch TV gucken (sitzen), um danach ins Bett zu gehen.

All das sind ständige, kurzzeitige Auf und Abs in einer Linie, die in keinster Weise unseren aktiven und passiven Bewegungsapparat herausfordern, sondern nur auf einem Level der Belastung lassen.

Das geht auch lange Zeit gut, bis wir dann mal wieder der Hafer piekt und wir z.B. ein neues Gartenprojekt verwirklichen wollen und für uns komische, drehende Bewegungen machen, die am nächsten Tag unheimliche Schmerzen bereiten.

Oder noch schlimmer: wir glauben auf einmal wieder mit Kindern herumspielen und mithalten zu können.

Die auftretenden Probleme (Schmerzen und/oder kurzzeitige „Versteifung“ der Muskulatur) lassen uns dann wieder alte Dogmen herausholen, wie es sei ungesund für den Rücken, sich zu in der Hüfte zu drehen, um dann etwas aufzuheben oder durchgedrückte Knie sind schlecht fürs Gelenk etc.

Die Folge ist für die meisten logisch, indem sie solche Bewegungen einfach nicht mehr machen. Wenn man das Beispiel Kinder anbringt, die sich ständig rotieren, ihre Gelenke ständig durchdrücken etc. wird das Argument Alter hervorgebracht.

Erwachsene tun so etwas eben nicht.

Das ist ein Argument aus vergangenen Jahrhunderten, daß sich auf eine Benimm-Regel bezieht und nicht auf die bloße Möglichkeit.

Die US Farmboys

Im 2. Weltkrieg hat man viele zusätzliche Soldaten rekrutiert, um dem 3. Reich die Stirn zu bieten. Hier kamen auch eine Menge junger Männer in die US Armee, die aus der Landwirtschaft kamen.

Von den ansässigen Soldaten belächelt, die das damals übliche Fitnessprogramm absolvierten. Das Programm bestand aus vielen linear ausgeführten Übungen, so wie sie heute in Fitnessstudios immer noch gängig sind (hoch/runter, vor/zurück).

Die Farm Boys waren, so stellte sich heraus, weitaus stärker, als alle anderen.

Der Grund dafür ist simple. Sie mußten viel schwere Arbeit von Hand machen. Arbeit, die viel Rotation benötigt, Arbeit, die alle 6 Freiheitgrade ausnutze.

Die Farm Boys nutzen ihre körperlichen Gegebenheiten aus und hatten so, ohne zu trainieren, ihre Körper so „hingebaut“, wie sie funktionieren sollen.

Als Konsequenz auf diese Erkenntnis, hat die US Armee übrigens ihr Fitnessprogramm verändert.

Wenn wir uns jetzt das heutige Dogma mit der Rotation und der Wirbelsäule ansehen, ist nicht die Bewegung schlecht, sondern unser körperlicher Zustand.

Und natürlich verletzen wir uns, wenn wir uns überlasten.

Wer über Jahre hinweg zu einem Großteil nur lineare Bewegungen gemacht hat und auf einmal meint, 30kg aus einer Rotationsbewegung zu heben, der wird sich überlasten und im schlimmsten Fall verletzen.

Wir sind Belastung nicht mehr gewohnt. Aber wir brauchen sie. Und zwar in allen Richtungen.

Und wir folgen dogmatisch etwas in unserer Fitness, daß erst seit ca. 80 Jahren existiert: hoch/runter, vor/zurück – Bewegungen.

Wir lassen Rotationen und Kippbewegungen aus, die seit Jahrtausenden genutzt werden und wundern uns, daß unsere Schultergelenke nicht mehr so „gelenkig“ sind wie früher oder daß wir ständig Rückenschmerzen haben.

Die Folge dieser Dogmen ist, daß unsere Muskulatur sich zurückbildet. Sie wird schließlich nicht gebraucht. Auch sucht der Körper dann einen Ausweg, um die „lahm gelegte Region“ zu entlasten und aktiviert andere Gelenke, um das Defizit zu beheben. Die Folge Fehlhaltungen, die über die Jahre weitere Probleme machen werden. Nicht sofort, aber in 40-50 Jahren. Das ist es dann, was wir unter „wir werden alt“ verstehen, wenn unsere Knie wehtun.

Brücke bauen

Wenn wir auf dem Rücken liegen und eine Brücke machen sollen (Beine anwinkeln, Po hoch und Halten) ist das für viele schon einen Herausforderung. Wenn wir aus dieser Position heraus jetzt noch eine Rotationsbewegung machen sollen, sind viele überfordert.

Gibt es einen Weg, wie man diese Bewegung umgehen kann? In einer Selbstverteidigungssituation am Boden sicherlich. Aber diese Lösungen sind mehr für Menschen gedacht, die wirkliche orthopädische Probleme haben (z.B. durch Unfall, Krankheit oder auch Geburt nicht funktionale Gelenke, Muskeln etc.). Alle anderen sollten diese Probleme angehen und diesen Sonderweg nur vorübergehend wählen.

Ich persönlich halte es ganz einfach: Die Bewegungen, die mein Körper von Geburt an machen kann, können nicht falsch sein. Ich kann meinen Oberkörper und Knie um 90 Grad nach links oder rechts drehen, bei Füßen, die geradeaus stehen bleiben und kann aus dieser Position mich bücken.

ich kann aber nicht meinen Unterschenkel um 180 Grad nach vorne/oben klappen, so daß meine Zehspitze mein Becken berührt.

Wir müssen aber auf die Intensität aufpassen und die Zeit, unter der wir uns unter Belastung bringen (TUT=Time under Tension). Wir können von unseren Körpern nicht verlangen sofort 100% zu geben. Wir müssen uns wieder an Belastung gewöhnen.

Und wir müssen den Entschluss fassen, daß auch zu wollen.

Die Vorteile liegen auf der Hand. Die Komfortzone jault aber sofort auf in ihren schrillsten Tönen.

Selbstverteidigung

Nochmal: Selbstverteidigung muß für jeden zugänglich sein, egal welches Fitnesslevel oder welchen Gesundheitszustand man hat. Das ist ein unumgängliches Ziel.

Aber es muß auch unser Ziel sein, unsere Körper so zu benutzen, wie sie geschaffen wurden.

Wir sind Opfer unseres modernen Lebens und unseres Wohlstandes geworden.

Und Opfer sein, wollen wir nicht. Das lernen wir doch in der Selbstverteidigung. Wir wollen uns aus diesen Situationen befreien.

Wir sollten bei uns anfangen.