Über Selbstverteidigung

Ich hatte neulich einen neuen Teilnehmer da zum Probetraining. Er wollte gerne Selbstverteidigung lernen.

Als wir uns am Ende noch einmal getroffen hatten, um das Training zu besprechen, sagte er mir, daß er es gut fand, aber etwas anderes erwartet hatte.

Mehr Action, sagte er. Ich hätte so viel erklärt und er hätte lieber in der Zeit gekämpft. Und auch härter.

Ich habe mich für seine offenen Worte bedankt.

Und ihn gebeten, sich einen anderen Ort zum trainieren zu suchen.

Ich habe es folgender Maßen begründet.

Was ist Selbstverteidigung?

Ich unterrichte keinen Kampfsport.

IKI Krav Maga ist Teil meines Selbstverteidigungskonzepts. Es passt wirklich wunderbar in mein Verständnis von Selbstverteidigung. Dazu aber später mehr.

Wenn ich jetzt in eine Situation gerate, die offensichtlich gefährlich werden kann bzw. schon ist, muß ich mich dann immer sofort körperlich wehren? Oder gar angreifen?

Die Antwort hierzu ist oftmals ein klares Nein.

Es gilt immer (!) eine körperliche Auseinandersetzung zu vermeiden.

Selbstverteidigung heißt nicht, daß ich körperlich kämpfen muß und auch Krav Maga heißt nicht, daß ich mich ausschließlich körperlich wehren kann.

Wer das glaubt, hat den Sinn von Krav Maga nicht verstanden.

Krav Maga ist kein magisches Allheilmittel.
Krav Maga ist ein Werkzeug. Kein Grund.

Es kann (!) dir helfen, schnell aus einer Situation herauszukommen, um sich dann zu entfernen.

Davor stehen aber noch hunderte andere Optionen.

Und um diese anwenden zu können, muß man einiges lernen.

1. Bewußte Aufmerksamkeit

Mit Aufmerksamkeit ist der Punkt gemeint, seine Umgebung mit allen Sinnen wahr zunehmen.

Wenn ich das nicht mache, kann ich der stärkste Kämpfer auf den Planeten sein, es wird mir dann nicht helfen.

Wenn ich etwas nicht mitbekomme, kann ich überrollt werden bei einem Angriff.

Fakt ist nämlich, wenn ich überraschend attackiert werde, muß ich mich immer erst wieder sortieren und orientieren.

Ich muß realisieren, was passiert ist.

Bin ich verletzt?

Wo kam der Angriff her?

Wo ist der Angreifer?

Wo bin ich gerade (am Boden, im Stand?)

Wieviele Angreifer sind es?

Sind Waffen im Spiel?

Etc.

Das geschieht alles in Sekunden, aber braucht Zeit.

Zeit, die mein Angreifer nutzen wird, um mich ein weiteres Mal zu attackieren. Immerhin ist er sich seiner Wahrnehmung bewußt und kann gezielt handeln.

Hinzu kommt, daß ich mir diese Fragen auch nur stellen kann, wenn ich noch bei Bewusstsein bin.

Es kann reichen, wenn man nur einen Schlag, Stich, Schuß abbekommt, der einem das Licht (für immer) ausbläst.

Zu Lernen, was bewußte Aufmerksamkeit ist, muß man lernen.

Geplanter oder spontaner Angriff?

Wir unterscheiden in der Selbstverteidigung grob gesagt in zwei verschiedenen Arten von Angriff.

Dem geplanten Angriff und dem spontanen Angriff.

Geplanter Angriff

Ein geplanter Angriff ist das, was der Begriff schon sagt.
Ein Mensch entschließt sich z.B. jemanden zu überfallen, um sein Geld und Handy zu bekommen.

Er bereitet sich also darauf vor. Sucht sich einen Ort und einen Zeitpunkt aus und dann die Person, die er überfallen wird. Davor hat er vielleicht noch eine Waffe, wie ein Messer gekauft, daß er als Druckmittel nutzen will.

Hat er sich jetzt die Person ausgesucht und der Zeitpunkt und die Umstände stimmen, beginnt er den Überfall.

In diesem Beispiel bin ich jetzt das Opfer.

Da steht jetzt dieser Mensch vor mir mit einem Messer und will mein Portemonnaie und Handy.

Was mache ich jetzt?

Ich kann doch Krav Maga und kann ihn entwaffnen?

Nun, ich bin höchstwahrscheinlich tot nach dieser Aktion oder wenigstens schwer verletzt.

Ausserdem habe ich eine Situation unnötig eskalieren lassen.

Es gibt in so einer Situation immer mehrere Option. Es ist eine Art Abfolge von Entscheidungen, die man hier treffen muß und alle haben natürlich Konsequenzen.

Körperlich reagieren ist eine der letzten Möglichkeiten. Und wir sprechen hier dann von einer eskalierten Situation.

Bislang ist aber nichts passiert, außer das da jemand steht, uns bedroht und unser Geld und Handy will.

Und da der Mensch nicht nervös erscheint (Hand zittert nicht, Stimme ist fest und entschlossen), ist die beste Option ihm/ihr das Geld und Handy ruhig zu geben und sich aus der Situation zu entfernen. Das wird in 99% der Fälle klappen.

Und ja, es ist ärgerlich. Aber lerne daraus. Und Geld und Handys gibts wie Sand am Meer.

Lerne daraus?

Ja. Ich habe, wenn ich überfallen wurde, meine Aufmerksamkeit fallen gelassen. Klingt hart. Ist aber so.

Und du wirst dein Aufmerksamkeit verlieren. Mehrmals am Tag.

Wir sind Menschen und tun so etwas. Wir können nicht 24h am Tag 100% geben. Wir machen Fehler. Auch das muß man realisieren.

Aber, wir können die Zeitspanne und unsere Reaktionszeiten durch Training verbessern (s.o.) und so eine Situation vermeiden, in dem wir wissen, wo/wie/warum/mit wem/wer wir sind.

Spontaner Angriff

Der Auslöser eines spontanen Angriffs kann vollkommen absurd sein.

Vielleicht ist es nur die Art und Weise, wie du etwas gesagt hast. Vielleicht hast du ausersehen, jemanden angerempelt oder ihn mit einem Getränk überschüttet, als du angerempelt worden bist.

Es ist vollkommen egal.

Dein Gegenüber sieht keine andere Wahl, als dich anzugreifen.

Hier ist es als Erstreaktion immer wichtig, sich erst einmal Platz zu schaffen. Distanz ist es, was du haben willst zu deinem Angreifer.

Auch hier ist die Vorgabe der Situationen quasi unzählig.

Wie intensiv ist der Angriff? Zückt er sofort ein Messer und sticht auf dich ein oder schubst er dich nur heftig und pöbelt dich an mit deutlichen Tendenzen weiter zu gehen?

Im ersten Fall bleibt dir nur die Möglichkeit, dein Leben zu verteidigen und zu versuchen dich schnellstmöglich aus dieser Situation zu befreien. Hier kommt dann z.B. Krav Maga mit seinen Techniken ins Spiel.
Allerdings glaube nicht, daß du unverletzt bleibst. Du wirst bei einem Messerangriff bluten, die Frage ist nur wie heftig und wo. Es gibt keine Garantien.

Im zweiten Fall aber hast du weiterhin mehrere Optionen. Du kannst es weiter eskalieren lassen oder versuchen zu de-eskalieren.

Du willst einen Kampf weiterhin vermeiden? Gut.

Die oberste Priorität ist hier Distanz zu wahren und deinem Angreifer Optionen aufzuweisen, die er noch wählen kann.

Dein Angreifer kennt momentan nämlich nur eine Option: Angriff

Hier kommen jetzt De-Eskalationsstrategien zum Tragen.

Du mußt ihm/ihr Optionen bieten aus dieser bedrohlichen Situation herauszukommen und seinen Angriff nicht weiter durchführen zu wollen.

Das geht mit allerlei Stress und Aggression einher. Auf beiden Seiten.

Diesen mußt du entgegen treten können. Das muß man lernen.

Unter Vollstress und ich meine hier unter Bedrohung der eigenen Gesundheit und Leben, weiterhin zu funktionieren, ist lernbar.

Aber nicht, indem man nur coole Techniken lernt.

Kämpfen kann man immer noch. Aber wir wollen einen Kampf vermeiden.

Finde Optionen. Überzeuge. Mache Angebote. Wahre Distanz.

Fazit

Selbstverteidigung ist ein komplexes Geflecht an Entscheidungen und Optionen, daß man verstehen lernen muß.
Es reicht nicht, ein paar mechanische Techniken zu können und dann sich zu sein.

Die Techniken sind nichts wert, wenn man einer Situation psychisch nicht standhalten kann. Die Techniken sind nichts wert, wenn du nicht weißt was du tust.

Und die Techniken nicht nichts wert, wenn du dich zu sicher damit fühlst.

Es gilt prinzipiell immer einen Kampf zu vermeiden.

Ein Kampf hat immer Verlierer. Im Wettkampf einen Verlierer und in einem Strassenkampf immer zwei Verlierer.

Klug zu handeln muß man lernen.

Ein übersteigertes Selbstbewusstsein zu haben, weil man irgendeinen Kampfsport kann, kann irgendwann zu fatalen Fehlern führen.

Man muß die Natur von Angriffen begreifen und man muß sich mit Gewalt und Aggressionen im Vorfeld auseinander setzen, damit man in bedrohlichen Situationen einigermaßen sicher heraus kommt.

Die schiere Anzahl an Variablen macht es komplex und zugleich aufregend im Lernprozess.

Wer Selbstverteidigung lernen will, muß da durch.

Wer nur kämpfen will, sollte sich einen wettbewerbsfähigen Kampfsport aussuchen und sehr gut darin werden.
Das ist aber keine Garantie auf Sicherheit.

Garantien gibt es nämlich nicht.

Bei mir lernt man Selbstverteidigung. Eines der Werkzeuge ist IKI Krav Maga. Und ja, auch wir simulieren körperliche Auseinandersetzungen und kämpfen kontrolliert. Das muß man.

Aber man muß auch vieles andere beachten.